Fotos / Fotografie und ihre Wirkung innerhalb der Erzählung „Der Verloren“
Textstelle (Textauszüge aus: Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene. Erzählung. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.) |
Erarbeitung/ Deutung |
M1 Mein Bruder […] lachte in die Kamera. ich beneidete ihn […] um seinen Platz im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war. (7/8) |
|
M2 Außerdem war Arnold auf einem ziemlich großen Photo abgebildet, während die Photos, auf denen ich abgebildet war, zumeist kleine, wenn nicht winzige Photos waren […] Die Photos, auf denen ich abgebildet war, mußte man
schon sehr genau betrachten, um überhaupt irgend etwas erkennen zu können. […] Eines dieser winzigen Photos zeigte […] mehrere Kinder, und eines dieser Kinder war ich. Allerdings war von mir nur der Kopf zu sehen […] Außerdem war mein Kopf teilweise verdeckt von […] einem vor mir stehenden Kind, so daß das winzige Photo […] nur einen Teil meines Kopfes […] zeigte. Darüber hinaus lag auf dem sichtbaren Teil des Kopfes ein Schatten […] so daß von mir in Wahrheit nur das rechte Auge zu sehen war. (8) |
|
M3 Während Arnold schon zu Säuglingszeiten nicht nur wie ein glücklicher, sondern auch ein bedeutender Mensch aussah, war ich auf den meisten Photos meiner Kindheit zumeist nur teilweise und manchmal auch so gut wie
überhaupt nicht zu sehen. […] auf einem Photo das anläßlich meiner Taufe aufgenommen worden war […] die Spitze eines Säuglingfußes darunter hervorschaute. In gewisser Weise setzten alle weiteren Phots, die von mir in meiner Kindheit
gemacht worden waren, die Tradition dieses ersten Photos fort, nur daß auf späteren Photos statt des Fußes nur der rechte Arm, die halbe Gesichtshälfte oder […] nur ein Auge zu sehen war. (9) Nun hätte ich mich mit der nur teilweisen Anwesenheit meiner Person im Familienalbum abfinden können, hätte es sich die Mutter nicht zur Angewohnheit gemacht […] über die kleinen und winzigen Photos […] auf denen ich beziehungsweise einzelne Körperteile von mir zu sehen waren, hinweg[zugehen] während das mir gleichsam lebensgroß erscheinende Photo, auf dem mein Bruder Arnold zu sehen war, Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot. […] Das hatte zur Folge, daß ich zumeist mit verkniffenem Gesicht und mißlaunig neben der Mutter auf dem Sofa saß (9/10) |
|
M4 Schon die üblichen Aufnahmen hatte ich nur verkrampft über mich ergehen lassen, die nicht enden wollenden Hinterkopfaufnahmen aber waren eine Tortur, denn ich betrachtete meinen Hinterkopf in gewisser Weise als meinen schwächsten und unansehnlichsten Körperteil. (67) |
|
M5 Für den Bildervergleich benötigte man Photos […] Da sich von mir keine brauchbare Photographie fand, wurde ich zum Photographen geschickt. […] Die Ergebnisse seiner Arbeit dokumentierte er in einem Schaukasten. […]
Ich wollte auf keinen Fall in dem Schaukasten ausgestellt werden. Ich hatte den Schaukasten immer als eine Art Pranger empfunden […] Wenn ich in den Schaukasten mit den Photos blickte, dann begriff ich, daß die Menschen sterben mussten.
Und nicht nur das: oft sah ich sie jetzt schon als Tote, […] (63f) Es hatte den Eltern vollkommen ausgereicht, daß ich auf den vorhandenen Familienphotos nur teilweise und manchmal so gut wie gar nicht zu sehen war. Nun kam alles darauf an, daß ich so deutlich wie möglich zu sehen war […] (66) Erst jetzt wurde auch den Eltern bewußt, daß der kleine Arnold mit verdeckten Ohren photographiert worden war. […] Niemand hatte auf die Ohren des Kindes geachtet, auch nicht der Photograph. Der Mann war mitsamt seiner Ausrüstung eigens aus der Kreisstadt Gostynin nach Rakowiec auf den Hof der Eltern gekommen, sogar die weiße Wolldecke hatte er mitgebracht […] (69) |
|
M6 „Ihr ähnelt euch“, sagte der Vater daraufhin zur Mutter (71) […] ich passte zu Arnold beziehungsweise zu Arnolds Photo (124) |
|
Arbeitsaufträge
- (*alternativ) Gestalten/ visualisieren Sie die Seite im Fotoalbum, die die Fotografien des Ich-Erzählers zeigt.
- Erläutern Sie den Unterschied der Darstellung der Fotos von Arnold bzw. des Ich-Erzählers (s. dazu auch M1-M6).
- Erläutern Sie die Wirkung, die Arnolds Foto auf den Ich-Erzähler besitzt (s. dazu auch M1-M6).
- Erläutern Sie die Selbstwahrnehmung des Ich-Erzählers anhand der Textstellen.
- Erläutern Sie das Motiv der Fotografie in den Textstellen.
Weiterführung Arbeitsauftrag
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden [...] ist.
2. Buch Mose, Exodus, Kap.20
Erörtern Sie: Wird in Treichels Erzählung gegen das Bildnisverbot verstoßen [im weltlichen Sinne]?
Modul 2: Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene: Herunterladen [docx][274 KB]
Modul 2: Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene: Herunterladen [pdf][651 KB]
Weiter zu Essay über Fotografie / Fotografieren